Arme Vertriebene oder unerwünschte Fremde?

Zur Gründung von Waldensberg 1699

Wenn ein Autofahrer heute auf der Landstraße über die „Spielberger Platte“ Waldensberg durchquert, wird ihm in dem schmucken Ort vielleicht die schnurgerade Hauptstraße auffallen, die sich von den kurvenreichen Ortsdurchfahrten der Nachbardörfer unterscheidet. Kaum dürfte er jedoch bemerken, dass den Turm der Kirche nicht ein Kreuz oder Wetterhahn schmückt, sondern die Silhouette einer fliegenden Taube. Die neu errichtete Kirche und überhaupt der auffallend neue Baubestand des Dorfes sind Folgen der Zerstörung des Orts noch im April 1945, das regelmäßige Straßensystem spiegelt dagegen noch den Grundriss der Flüchtlingskolonie wider, die im letzten Jahr des kriegerischen 17. Jahrhunderts entstand.

Dreihundert Jahre sind für ein Dorf eine relativ kurze Zeitspanne, blickt man auf den Kranz der oft weit älteren Orte in der Nachbarschaft, aber Waldensberg hat seine besondere Geschichte. Ein Markstein darin ist die Gründung selbst, die in ihren Einzelheiten gut bekannt ist, wiederum im Unterschied zu den meisten Nachbardörfern, gewissermaßen den Gegenpol bilden Zerstörung und Wiederaufbau nach 1945. Beides sind Vorgänge, die eng mit Konflikten großen Ausmaßes zusammenhängen, Kriegsereignissen, die auch die entlegene Vogelsbergregion unmittelbar oder indirekt betroffen haben.

Denn auch das Geschehen des Jahres 1699 hat seine Wurzeln in einem langen Krieg, der sich nicht nur auf weite Teile Europas ausdehnte, sondern auch zum franzosisch-englischen Kolonialkrieg in Nordamerika und damit zu einem der ersten „Weltkriege“ wurde. Wenn heute als Folge von Gewalt und Bürgerkrieg in Teilen Europas wieder Flüchtlingsströme zum Problem für unsere Gesellschaft werden, der Umgang mit Minderheiten anderer Religionen die Meinungen spaltet, ist dies ein Grund mehr, sich an die Aufnahme der Glaubensflüchtlinge vor drei Jahrhunderten zu erinnern.

Die frühe Geschichte von Waldensberg ist gut erforscht. Wenn auch die Kirchenakten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, 1945 vernichtet wurden, so lässt sich das Geschehen aus den Unterlagen der Gräflichen Verwaltung in Wächtersbach, die heute im Archiv des Büdinger Schlosses verwahrt werden, gut rekonstruieren. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert schon haben einige der in Waldensberg wirkenden Pfarrer den Blick auf die besondere Geschichte ihrer Gemeinde gelenkt, wie August Wilhelm Beyer in einem Aufsatz von 1880 und sein Nachfolger Johann Adam Heilmann mit seiner „Geschichte der waldensischen Kolonie Waldensberg“ (1903), der er 1905 ein „Urkundenheft“ mit den wichtigsten Dokumenten aus der Frühgeschichte der Siedlung folgen ließ. Der leider zu früh verstorbene Pfarrer August Grefe (+1983) hat das historische Interesse mit seinen Amtsvorgängern geteilt und wieder Verbindungen in die Alpentaler geknüpft. Nachdem Manfred Schlosser in seiner 1958 gedruckten Frankfurter Doktorarbeit den sozialgeschichtlichen Aspekten, wie der Eingliederungsproblematik und dem Gruppenverhalten, besondere Aufmerksamkeit schenkte, hat der große Waldenserforscher unserer Tage, Theo Kiefner, Waldensberg im dritten Band seines monumentalen Werkes eingehend behandelt und zuvor schon die Privilegien ediert und neu übersetzt. Diese Ergebnisse sind wiederum in manche Detailuntersuchungen eingegangen, wie die von Monika Vogt über die Architektur der Flüchtlingssiedlungen, und in kleineren heimatkundlichen Veröffentlichungen übernommen worden. Auch die hiermit vorgelegte Zusammenfassung ist diesen Autoren verpflichtet. Sie bringt keine neuen Fakten, betont aber starker den Zusammenhang mit Tendenzen, die im Ysenburger Gesamthaus wirksam wurden. Denn mit dem Jahre 1699 beginnt eine vielschichtige Entwicklung, durch welche die Grafschaft Ysenburg, trotz der politischen Schwächung durch die vorangegangenen Teilungen, einen besonderen Ruf als Freistätte religiös verfolgter Minderheiten erhielt.

Doch ist auch die Vorgeschichte kurz zu beleuchten. Am 17. Oktober 1685 hatte König Ludwig XIV. von Frankreich das Edikt von Nantes aufgehoben, das seit 1598 den französischen Hugenotten, der reformierten Kirche, ein Lebensrecht innerhalb der Monarchie gesichert hatte. Die Entscheidung des „Sonnenkönigs“ bildete nur den Abschluss von Pressionen, die schon früher eingesetzt hatten; nunmehr aber gab es zur Zwangskonversion nur noch die Alternative der Auswanderung. Von dem Revokationsedikt waren auch die Waldenser in den zum französischen Dauphine gehörigen oder von Frankreichbesetzten Tälern der Cottischen Alpen betroffen, die sich zumeist über Genf in die Schweiz absetzen konnten.

Die Frage der Aufnahme der zu zehntausenden zählenden französischen Refugiés wurde zu einem europäischen Thema, insbesondere in den Anrainerstaaten Frankreichs und den protestantischen Territorien des Reiches. Zu den ersten deutschen Fürsten, die sich zur Aufnahme unter besonderen Privilegien bereit erklärten, gehörte neben Landgraf Carl von Hessen-Kassel Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der durch die Konfessionspolitik des Königs vom Parteigänger Frankreichs zum entschiedenen Gegner geworden war. Auch kleinere Landesherren, zumal im westlichen Deutschland, wo die Reichsstadt Frankfurt bald zur „Drehscheibe des Refuge“ (M. Magdelaine) wurde, begriffen bald die Chance, welche die Ansiedlung kleinerer Flüchtlingsgruppen für die Entwicklung ihrer Territorien bot. Fast allgemein waren die Bevölkerungsverluste durch den Dreißigjährigen Krieg noch längst nicht aufgeholt, aber es war nicht so sehr die Zahl möglicher neuer Untertanen, sondern ihre Qualitäten. Denn die Hugenotten waren als wirtschaftlich aktive Schicht bekannt, die Erwartungen richteten sich auf Handwerker und Kaufleute, oder gar „Unternehmer“, die durch Manufakturen neue Impulse setzen konnten. Die bäuerlichen Waldenser waren demgegenüber eher eine unbekannte Größe, sie waren schwieriger unterzubringen und oft ohne Mittel. So ist auch die besondere Protektion zu verstehen, die sie durch die Schutzmacht der Glaubensflüchtlinge, die Vereinigten Niederlande erhielten, dem politischen Hauptgegner Ludwigs XIV. Hier ist besonders Peter Valkenier zu nennen, Diplomat und politischer Publizist, seit 1676 niederländischer Resident in Frankfurt und später auch Gesandter der Generalstaaten in der Schweiz, der sich wie kein anderer der Waldenser annahm.

Eine Gruppe von Waldensern aus dem Val Cluson war 1688 ins Gebiet der Grafschaft Hanau gelangt, wo sich aber keine Möglichkeit für eine Ansiedlung ergab. Einer ihrer Führer, Pfarrer Papon, begab sich daher Ende Juni 1688 zu Gräfin Marie Charlotte zu Ysenburg nach Wächtersbach und bat um Aufnahme von „etwa fünfzig Hausgesessen armer vertriebener Leute“. Die Gräfin führte damals die Regentschaft, für ihre entweder in Kriegsdiensten weilenden oder noch minderjährigen Söhne. Diese hatten 1687 nochmals eine Teilung vereinbart, die aber wegen der Vormundschaft noch nicht zur Wirkung gekommen war. In den Verhandlungen mit dem ysenburgischen Rat König machten die Refugiés geltend, dass sie niemandem zur Last fallen würden, da sie „reiche Steuer der Holländer“ zu erwarten hatten. In Wächtersbach legte man denn auch besonderen Nachdruck auf finanzielle Garantien der Niederlande, der Schutzmacht ihrer Glaubensgenossen. Obwohl die Waldenser nur geringe „Ackernahrung“ forderten und anführten, sie konnten sich zusätzlich durch Wandergewerbe und Flachsspinnen ihrer Frauen ernähren, wurde es schwierig, einen geeigneten Ort zur Ansiedlung zu finden. Vorschläge Königs, sie in den während der Kriegszeiten verödeten Beisassensiedlungen vor den Mauern Büdingens unterzubringen und mit der Zeit hier sogar eine neue „Vorstatt“ zu erbauen, oder sie in ähnlicher Weise „bey Wechtersbach“ anzusiedeln, trafen auf den Widerstand der Bürger, die um ihre Holz- und Weiderechte fürchteten. Die Flüchtlinge aus den Alpen hatten auf dem bisherigen Zug ihren sozialen Verband nach Tälern und Dorfschaften beibehalten, dies war ihre Stärke. Da sie wieder in den alten Strukturen siedeln wollten, lehnten sie eine Aufteilung auf bestehende Dörfer oder Höfe ab. Die Verhandlungen stagnierten auch deshalb, weil gleichzeitig Gespräche mit der hessischen Regierung in Darmstadt aufgenommen worden waren. Die Waldensergruppe gab schließlich einem dort angebotenen Gelände zwischen Messel und Arheiligen den Vorzug. Dies war keine gute Entscheidung, denn die Gegend wurde bald durch die beginnenden Vorstöße französischer Truppen beunruhigt, ein Vorspiel zu dem langen „Pfälzischen Krieg“. Die Flüchtlinge wandten sich nach Osten ins hessische Amt Nidda, wo sie aber keine dauerhafte Bleibe fanden.

Wenn somit der erste spontane Versuch auch ohne Ergebnis blieb, so hatte man doch die Vertriebenen als „bescheidene, uffrichtige, fromme und wackere Leute“ kennengelernt, wie Rat König in seinem Bericht an die Gräfin Marie Charlotte schrieb. Der Gedanke war gestärkt worden, dass sich das Ziel der Bevölkerungsvermehrung und des wirtschaftlichen Aufbaus mit einer offenen Haltung, mit der Akzeptanz von Fremden vereinbaren ließ.

Zehn Jahre später, während der zweiten großen Auswanderungswelle aus Frankreich und Savoyen 1698/99 nach dem Frieden von Rijswijk, erwuchsen daraus konkrete Maßnahmen. Den Anfang machte 1698 Graf Johann Philipp von Ysenburg-Offenbach. Als sich Verhandlungen des Hugenottenführers Capitaine David de Calmelz in Darmstadt wegen einer Ansiedlung von 300 Familien bei Kelsterbach zerschlugen, sprang der Ysenburger Graf in die Bresche und bot mit einem Privileg vom 10. Juli 1698 die Ansiedlung in seiner Residenzstadt Offenbach an, wo ihnen gratis das nötige Bauland zur Verfügung gestellt werden sollte. Aber die Herrschaft besaß nicht genügende Bauplätze und sie von den Bürgern zu erwerben, stellte sich als äußerst schwierig heraus. Hinzu kamen interne Spannungen, nicht nur zwischen Franzosen und einigen dabei befindlichen Waldensern, sondern auch zwischen Gewerbetreibenden und Ackerleuten. Als der Abzug bereits wieder eingesetzt hatte, wandte sich eine kleine Gruppe von Bauern über den Hofprediger Conrad Briaske an den Grafen und erreichte, dass ihnen unbebautes Land bei einer Waldlichtung im Forst Dreieich zugesagt wurde, wo dann 1699 mit der Anlage eines neuen „welschen Dorfes“ begonnen werden konnte, bald Neu-Isenburg genannt.

Trotz der Ysenburger Teilung bestanden noch Kontakte zu den Büdinger Linien und auch eine lose politische Zusammenarbeit. Nun, da man sich am Beginn einer längeren Friedensperiode wähnte, sah man auch hier die Chance, die sich mit einer aktiven Integrationspolitik auftat. Die Reaktion der vier Brüder, die sich inzwischen in ihren kleinen Anteilen etabliert hatten, war allerdings unterschiedlich. Graf Georg Albrecht in Meerholz hielt sich merklich zurück, obwohl Landgraf Friedrich II. von Hessen-Homburg, einer der großen Protektoren der Flüchtlinge, deswegen an ihn schrieb und der niederländische Gesandte Valkenier, nach wie vor die zentrale Gestalt bei der Lenkung der Flüchtlingsströme aus der Schweiz in die Territorien des Reichs, Verbindung zu dem leitenden Beamten in Meerholz, Hofmeister Günderode, aufgenommen hatte. Der Erbe des Büdinger Teils, Graf Johann Casimir, war bereits verstorben, sein Sohn Ernst Casimir, der sich später durch das Patent von 1712 in der Geschichte der Toleranz einen Namen machen sollte, noch minderjährig, so dass eine Ansiedlung hier nicht diskutiert wurde. Ein eifriger Befürworter war Graf Carl August im Marienborner Teil, doch war sein Gebiet das kleinste und besaß keinen rechten Mittelpunkt, da das Schloß Marienborn noch im Bau war. Er machte zwar den Vorschlag, auf dem Breitenborn, wo noch eine Glashütte arbeitete, zwölf Familien unterzubringen, konnte aber nur jeweils sechs Morgen Land anbieten, was zu gering war. Blieb noch der Bruder in Wächtersbach.

Graf Ferdinand Maximilian I. (1662-1703) hatte auf seiner für Adelssöhne obligatorischen Bildungsreise 1682 auch den Hof Ludwigs XIV. in Versailles besucht und sich danach einige Monate an der Akademie in Angers aufgehalten, einer von hugenottischer Tradition geprägten Hochschule. Schlussetappen der „Cavalierstour“ wurden die Niederlande und eine kurze Überfahrt nach England. Er kannte also die Brennpunkte des politischen Geschehens der folgenden Jahre aus eigener Anschauung. Zu einem Verehrer des „Sonnenkönigs“ ist er nicht geworden, denn er trat anschließend für einige Jahre als Offizier in die Dienste der niederländischen Republik.

Seit 1687 verwaltete Ferdinand Maximilian den ihm zugefallenen Wächtersbacher Stammteil in nüchterner und sparsamer Art. Denn die Ressourcen waren äußerst bescheiden. Sein Anteil bestand aus Stadt und Schloß Wächtersbach und dem zugehörigen Gericht, das nur die Dörfer Hesseldorf und Weilers umfasste, sodann dem größeren Gericht Spielberg und drei Höfen: dem Hainhof, dem Leisenwalder Hof und dem Weiherhof. Durch interne Umschichtungen kamen später noch Wolferborn mit Michelau hinzu. Der Wächtersbacher Graf hatte bei seinem Bruder in Marienborn angedeutet, er könne „wohl einhundert Familien bey den Weyerhoff und dort herum noch wüst liegende Güter setzen“. In einem längeren Brief nahm Graf Carl August am 16. Mai dazu Stellung, warnte aber „vor denen herum vagabundierenden wanckelmüthigen Frantzosen“ und riet stattdessen zur Aufnahme von Waldensern, „indeme sich diese beßer zusammen und bey guter Ordnung halten, laborioser und standhafter alß jene seyn sollen“, und, was besonders für sie sprach, „die Engeländer und Holländer vor sie sorgen, mit Unterhalt und Geld zu Beförderung ihres etablissements anhand gehen, also dass die Herrschaft keine so große Ungelegenheit von ihnen zu gewarten hat“. Er fügte jedoch hinzu: „Sie sind aber keine Manufacturiers und Handwerks-, sondern nur Bauers- und Arbeitsleuthe, welche sich vom Vieh-, Feld- und Weinbau zu ernehren wißen, und also eine ziemliche Quantitet Lands erfordern“. Was die schlechte Meinung über die Hugenotten betrifft, so muss man wissen, dass es sich um diese Zeit häufig um Trupps handelte, die während des vergangenen Krieges in Südfrankreich und Savoyen den Soldaten Ludwig XIV. militärischen Widerstand geleistet hatten und die nach dem Frieden auf zum Teil abenteuerlichen Wegen fliehen mussten.

Auch Graf Johann Philipp bot von Offenbach aus Unterstützung an und entsandte den Capitaine de Calmelz zur Besichtigung des fraglichen Geländes und zur Vorbereitung einer „Capitulation“, eines Niederlassungsvertrags. Am 21. April 1699 erließ Graf Ferdinand Maximilian ein förmliches Einladungsschreiben, das sich ganz allgemein an die „Francois refugiés“ richtete und ihnen die Aufnahme in seinen Landen versprach, bei Privilegien sowohl für „Manufacturiers“ und andere Gewerbetreibende wie auch für Landleute. Am 23. Mai 1699 wurde der Aufruf durch eine genauere „Declaration“ ergänzt, die neben den wirtschaftlichen Starthilfen auch das freie Religionsexercitium und die interne Ordnung des kirchlichen Lebens „nach ihrer Gewohnheit“ garantierte, allerdings unter Aufsicht des Konsistoriums der Grafschaft.

Inzwischen war eine akute Situation entstanden, denn eine größere Zahl von Waldensern hatte die Schweiz Anfang Mai verlassen müssen und war den Rhein hinab bis in die Gegend von Rüsselsheim auf Darmstädter Gebiet gelangt. Valkenier nahm umgehend Verhandlungen wegen der Unterbringung auf, zunächst mit den Beamten der hessischen Landgrafschaft, aber etwa auch mit Graf Wilhelm Moritz zu Ysenburg in Birstein. Dieser hätte gern die Dorfwüstung Flosbach bei der „Stumpen Kirch“ südlich von Wenings wieder besiedelt, doch zu Bedingungen, die nicht akzeptiert wurden. Besser standen die Dinge bei Wächtersbach. Anfang Juli reisten vier Deputierte der Waldenser in die kleine Residenz, wo sie zwar den Grafen nicht antrafen, aber die Örtlichkeiten besahen und „ziemlichen Lusten“ dazu zeigten, wobei sie an etwa 70 Familien dachten.

Die konkreten Verhandlungen über die Ansiedlung gestalteten sich aber nicht einfach. Der niederländische Diplomat Valkenier, seit langem erfahren in diesem Geschäft und die Interessen der Schützlinge seines Landes energisch vertretend, traf in Ferdinand Maximilian auf einen Partner, der zwar einerseits an die Grenzen seiner Möglichkeiten ging, aber auch wusste, was er dafür fordern konnte. Es hatte sich bald gezeigt, dass eine Ansiedlung in oder bei einem der Dörfer nicht möglich war.

Herrschaftliches Land war hier nicht genügend vorhanden und die Eingesessenen waren zum Verkauf nicht bereit, auch brach liegende Felder wollten sie lieber selbst wieder unter den Pflug nehmen. Man muss dabei aber ihre Situation mit berücksichtigen, denn die Bauern hatten über Jahre die harten Begleiterscheinungen eines Krieges mit ständigen Kontributionen und anderen Lasten ertragen müssen, und eine 1698 angeordnete „Herdstättenzahlung“, um einen Schlüssel für die Aufteilung der nunmehr ständig für den Unterhalt der Kreistruppen erhobenen „Matrikularbeiträge“ zu finden, dürfte den Argwohn verstärkt haben. So wollte der Graf den Flüchtlingen nunmehr „dasjenige landt, so vor dem Balingen Walt, zwischen Leysenwalt und dem Weyerhof liegt, und annoch vacant ist, assignieren lassen“. Dabei handelte es sich um einen Distrikt, „der zum kleineren Teil aus einem Stück Weide vom herrschaftlichen Weiherhof, einem Teil des Leisenwalder, Spielberger und Wolferborner Weidgangs und zum größeren Teil aus einem mit lichtem Wald und Buschwerk bestandenen Gelände bestand. Dieses Waldstück war durch den inzwischen zum Erliegen gekommenen Eisensteinbergbau völlig degradiert“ (Schlosser).

Obwohl inzwischen die Grundsatzentscheidung für Wächtersbach gefallen war, beanspruchte die Klärung strittiger Fragen noch viele Wochen. In manchem Punkt gab die Herrschaft schließlich nach; so wurden die anstößigen Frontage durch eine Geldzahlung abgelöst. Einen Kernpunkt bildete für den Grafen dagegen die Forderung nach einer Gegenleistung der Niederlande, die ihm ja in der Person ihres Gesandten als Verhandlungspartner gegenüberstanden. Ferdinand Maximilian verlangte von Valkenier, sich bei dem Statthalter Wilhelm von Oranien, der als William III. zugleich König von England war, dafür einzusetzen, seinem Sohn, dem 1692 geborenen Grafen Ferdinand Maximilian II., eine Kompanie in dessen Garde zu übertragen. Nomineller Befehlshaber dieser Einheit war Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg, der seine Charge ebenfalls dem Engagement für die Waldenser verdankte. Graf Ferdinand Maximilian I., der selbst in niederländischen Diensten gestanden hatte, wusste sehr wohl, dass er nur diese Gelegenheit hatte, um an einen der begehrten, mit festen Einkünften verbundenen Offiziersrange zu kommen. Da aber keine Stelle frei war, musste er sich mit der Versicherung zufrieden geben, dass sein Sohn bei der ersten Vakanz Berücksichtigung finde. Nachdem die Ansiedlung Wirklichkeit geworden war, hielt die Gegenseite das Versprechen auch ein. Am 3. Mai 1700 wurde dem Grafen ein weiterer Sohn geboren, der bei der Taufe den Namen Wilhelm erhielt, nach seinem vornehmen, wenngleich nicht anwesenden Taufpaten König Wilhelm III. von England.

Daneben hatten auch die niederländischen Generalstaaten die Gevatterschaft angenommen. Daraufhin wurde am 16. Aug. 1701 nunmehr für diesen nachgeborenen Sohn ein Hauptmannspatent ausgefertigt, eine mit Blick auf die Zukunft angelegte Versorgung, wenngleich die Zeit- und Kriegslaufe später anders damit verfuhren.

Am 21. August 1699, oder dem 11.8. nach dem in der Grafschaft noch gebräuchlichen „alten Stil“, unterzeichnete Graf Ferdinand Maximilian schließlich die ausgehandelten 29 Punkte des Ansiedlungsvertrags, auch als „livre des droits“, Buch der Rechte bezeichnet. Ende August erreichten die Waldensergruppen, mehr als 300 Personen, die vornehmlich aus Mentoulles und Usseaux kamen, ihre künftige Heimat. Sie wurden zunächst in den Nachbardörfern untergebracht, bis die Kolonie eingemessen und Baracken gebaut worden waren. Für den Gottesdienst stand die Spielberger Kirche zur Verfügung, wo am 30. August als erster Kirchenbucheintrag die Beerdigung der Anne Bonnet vermerkt ist. Überhaupt spiegeln sich im Totenregister mit den bis Ende 1699 notierten 23 Beerdigungen deutlich die Strapazen des Flüchtlingstrecks wider.

Doch die eigentlichen Schwierigkeiten begannen erst, schon der Siedlungsplatz zeigte seine Widrigkeiten. Die Flüchtlingskolonie sollte auf der dem Wetter ausgesetzten Hochfläche angelegt werden. Dem Wunsch der Waldenser, ihr Dorf an einer günstigeren Stelle in einem Tälchen am Eintritt in den Büdinger Wald zu bauen, wurde nicht entsprochen; die Vermutung hat vieles für sich, dass die gräflichen Behörden Holzfrevel und Wilderei fürchteten. Eine Hauptschwierigkeit bildete die Wasserversorgung. Trinkwasser musste aus dem entfernten Leisenwalder Born geholt werden, erst im 19. Jahrhundert konnte ein ergiebiger Brunnen gebohrt werden. Die Beschränkung ihrer alten Weideflächen mussten zu noch mehr Ressentiments der Dörfler gegen die „Welschen“ führen.

Die Herrschaft drängte daher auf den raschen Bau von „Baracken“, Behelfsunterkünften, um Konflikten vorzubeugen. Denn vor allem die zugesagte Landzuteilung gestaltete sich schleppend und sorgte für Unzufriedenheit. Von den versprochenen 25 Morgen konnte noch keine Rede sein, zunächst stand für jede Familie nur ein halber Morgen zur Verfügung, in Abständen und unzusammenhängend kamen dann weitere Stücke hinzu, darunter auch Acker und Weideland vom Weiherhof. Umgekehrt war nicht einmal dieser Bruchteil überhaupt zu bearbeiten, denn es fehlte zunächst an allem und auch die Kenntnisse waren nicht vorhanden. Das die Herrschaft helfend eingreifen wollte, nutzte wenig, denn die Bergbauern waren im Umgang mit Zugvieh, Gespannen und Gerätschaften nicht geübt. Die Bestellung der Felder verzögerte sich daher und auch im Frühjahr des folgenden Jahres 1700 machten die Waldenser keine Anstalten, die Urbarmachung voran zu treiben. Sie pochten vielmehr auf die Erfüllung der vertraglichen Vereinbarungen und beriefen dazu am 28.04.1700 eine Versammlung ihrer Gemeinde in Spielberg ein. Dabei zeichnete sich ab, dass ein Großteil der Waldenser wieder abziehen wollte. Es war ein Zustand der Lähmung eingetreten, der sich übrigens in gleicher Weise auch bei den Projekten in Hessen-Darmstadt beobachten lässt: bei Kelsterbach etwa warteten rund 1000 Menschen auf die Zuteilung ihres Landes, womit aber die Beamten offenbar überfordert waren. Für die Wächtersbacher Verwaltung lag das Problem darin, dass nur Boden abgegeben werden konnte, der frei war. Manches Areal war jedoch mit Rechten der umliegenden Gemeinden belegt, um die erst noch gestritten werden musste. Vor neuen Waldrodungen aber schreckte der Graf zurück. lnsgesamt war so im Frühjahr eine für beide Seiten unerfreuliche, ja brisante Situation entstanden.

Es schälte sich eine Gruppe von Abzugswilligen heraus, meist Einwohner von Mentoulles. Da ja vertraglich ein fester Rechtszustand geschaffen war, musste der Graf den Abzug wieder genehmigen. So kam es zu einem Austausch von Papieren mit der Verwaltung, mit Gründen und Gegenreflexionen, die ein bezeichnendes Licht auf die verfahrene Situation werfen. Auch Valkenier mahnte zum Bleiben, da er fürchtete, dass einige doch wieder in ihre Alpentäler zurück wollten, trotz des ungewissen Schicksals, dass dort auf sie wartete. Mitte des Jahres zogen dann 204 Personen wieder aus „Waldensberg“, wie die Kolonie bald benannt wurde, ab. Die meisten gingen nach Württemberg und gründeten dort Nordhausen im Oberamt Brackenheim.

Eine Anzahl von Waldensern, insgesamt 157 Personen, aber hatte sich zum Bleiben entschlossen. Es waren meist kleinere Familien oder gar ledige Personen, die mit dem versprochenen Land auszukommen hofften, während kinderreiche Familien sich durch die gleichmäßige Verteilung des Bodens ungerecht behandelt fühlten. Armen- und Kollektengelder, die eingegangen waren, wurden zwischen den am 14. Juni 1700 Abziehenden und den Zurückbleibenden geteilt. Wenn auch die Schwierigkeiten blieben, so kehrte nun erst einmal Ruhe ein, die Pionierarbeit des Aufbaus konnte beginnen. Die Herrschaft stellte von den umliegenden Höfen Gespanne für die Grundbearbeitung und Meliorierung des Bodens, der durchweg in schlechter Verfassung war, zur Verfügung. An zusätzliche Einkünfte durch das gewohnte Flachshecheln und Wollspinnen war kaum zu denken, denn für den Verkauf im Wandergewerbe lag der Ort zu weit abseits von den größeren Verkehrswegen. So waren Reichtümer nicht zu erwerben, doch hielten die nunmehrigen Waldensberger zähe an ihrer neuen Heimat fest. Schwer genug wurde der Weg.

Eine Schule wurde zwar schon 1703 eingerichtet, doch sollte es mit einem eigenen, bescheidenen Kirchenbau noch bis zum Jahre 1739 dauern. Aber schließlich führten Fleiß und Zähigkeit der Dorfbewohner doch zu einer Verbesserung der Existenzgrundlagen, etwa durch Saisonarbeitertum und die im 18. Jahrhundert aufblühende Strumpfweberei. Die Gründungsgeschichte Waldensbergs aber führt uns mitten hinein in einen Brennpunkt der spannungsreichen deutschen, ja europäischen Historie, in eine Zeit, in der Machtpolitik und Religionspolitik noch kaum zu trennen sind. Denn auch der mächtigste Regent der Epoche, die oft nach ihm benannt wird, König Ludwig XIV. von Frankreich, begründete seine unbarmherzige Politik der Zwangskonversion und Vertreibung mit dem Einsatz für den „rechten Glauben“, mit dem Willen Gottes, der sich seiner Person bediene. Und er schien vordergründig Erfolg damit zu haben, wie die Meldungen über Zehntausende von „Bekehrungen“ zu bestätigen schienen, die ihm seine devote Umgebung täglich vorlegte. Aber viele Betroffene haben sich seinem Willen nicht gebeugt, darunter die kleine Gruppe, die vor dreihundert Jahren in Waldensberg einen neuen Anfang wagte. Mit der Aufnahme der französichsprachigen Fremden 1699, denen noch andere Glaubensflüchtlinge und Randgruppen folgten, gehörte die kleine Grafschaft Ysenburg zu den großen Wegbereitern des Gedankens der Toleranz und Religionsfreiheit, den der Büdinger Graf Ernst Casimir in seinem berühmten „Toleranzpatent“ von 1712 auf die Formel gebracht hat, „daß die Obrigkeitliche Macht sich nicht über die Gewissen erstrecke“.

Klaus Peter Decker (Bericht aus Festschrift 300 Jahre Waldensberg)